Piz Bernina
über Spallagrat, August 2004
Stefan
Annegret
So oft auch der Biancograt durch die Alpingespräche spuken mag,
gestehen sich doch alle heimlich ein, daß dieser Anstieg auf den
Piz Bernina vorerst nicht im Bereich des selbsterklärten
Extremalpinistenmöglichen liegt. Daher ist auch ohne Diskussion
klar, daß wir den höchsten Berg des Oberengadins über
den Spallagrat erklimmen werden.
Da wir das Oberengadin das letzte Mal vor drei Jahren und bisher auch
nur im Winter besucht haben, liegt es auf der Hand, einen Teil unserer
diesjährigen Sommerfrische hier zu verbringen. Auch diesmal sind
wir nur zu zweit, die übrigen Verdächtigen sind invalide oder
festangestellt oder beides. Allerdings wollen wir Harald in sechs Tagen
in Brig am Bahnhof zur Inangriffnahme von weiteren alpinen Abenteuern
treffen.
1. Tag: Fahrt Heidelberg - Poschiavo, Aufstieg von Poschiavo zum
Rifugio Bignami (2387m)
Bewährte Dramaturgie, die frühe Variante: Abfahrt in
Heidelberg um sechs Uhr morgens, Ankunft in Poschiavo um ein Uhr
nachmittags. Warum Poschiavo, und nicht Pontresina? Erstens verspricht
dieser Aufstieg zum Rifugio Marco e Rosa ein wohldosiertes
Akklimatisierungsprogramm. Zweitens wollen wir diese Gegend erkunden,
seit sie uns bei der geplatzten Bernina-Skidurchquerung vor drei Jahren
durch die Lappen ging.
Durch Proviant- und Karteneinkäufe in Poschiavo und
umständliche Packerei der Siebensachen wird es drei Uhr
nachmittags bevor wir mit den 1600 Höhenmetern Aufstieg beginnen.
Wie zu dieser Jahreszeit und Uhrzeit kaum anders zu erwarten, ist es
drückend heiß und es türmen sich dräuende
Gewitterwolken am Himmel. Glücklicherweise verhalten sie sich bis
zu unserer Ankunft ruhig.
Der Weg führt von Poschiavo (1020m) durchs Val d'Ursé
über die Alp Canfinal in den Pass da Canfinal (2628m). Hier ist es
neblig und wesentlich kühler, was nicht unwillkommen ist.
Unwillkommen sind allerdings die 500m Abstieg und die 200m
Gegenanstieg, die uns noch bevorstehen. Also Abstieg zum Lago di Gera
(2125m), Umrundung desselben und Wiederaufstieg zur Hütte. Ab dem
See ergreift mich eine ungeheure Mattigkeit, während Stefan munter
voran schnürt. Unvorstellbar, wie ich
diese 200m noch aufsteigen soll. Wohldosiertes
Akklimatisierungsprogramm, häh was!? Natürlich geht's doch,
aber zum wiederholten Male wird der Vorsatz gefaßt, nie wieder
Anfahrt und lange Hüttenanstiege am selben Tag zu erledigen.
Wir sind zwar eine Stunde zu spät für's Abendessen, werden
aber dennoch freundlich bewirtet. Außer uns sind auf der
Hütte nur Wanderer. Sehr angenehm, so bleibt uns das hektische
Alpinisten-Ausrüstungsgerassel noch einen Tag erspart. Wir betten
uns zeitig, obwohl es morgen nicht allzu früh losgehen soll.
2. Tag: Rifugio Bignami - Rifugio Marco e Rosa (3597m)
Da heute nur ein Hüttenwechsel ansteht, ist die Stimmung
entspannt und wir brechen erst bei Tageslicht auf. Das Wetter
könnte besser nicht sein und der erste Teil des Weges führt
durch ein hübsches, mit Schafen bevölkertes Hochtal.
Doch nicht lange währt der einlullende Almtrott: Ein steiles
Schottercouloir muß erstiegen werden, wenn wir der Empfehlung des
Hüttenwirtes folgen wollen, diese Abkürzung zu nehmen. Beim
Anblick der Menge an losem Gestein auf steiler Rutschfläche
würde so mancher gerne den üblichen Weg über die
Caspoggio Scharte und das Rifugio Marinelli nehmen, aber die Mehrheit
(?) setzt sich durch und die alpine Scheisserei nimmt ihren
unaufhaltsamen Lauf.
Blick hinab durch das Couloir des Grauens.
Oben angekommen, werden wir mit einem grandiosen Blick auf den
Altopiano di Fellaria und die Südseite des Piz Palü belohnt.
In der namenlosen Scharte. Im Hintergrund Piz Palü von
Süden.
Als nächstes Abstieg zur Vedretta di Fellaria, über
diese in den Passo Marinelli und von dort auf die Vedretta di Scerscen
superiore.
Vedretta di Fellaria mit Piz Argient von Süden.
Wir überqueren die Vedretta di Scerscen superiore, biegen um
eine Ecke, und was wir dann sehen, läßt gleich ein mulmiges
Gefühl aufkommen, gepaart mit der Frage: Wie kommen wir da hoch?
Das Rifugio Marco e Rosa thront auf einem Felsabsatz, etwa 400m
über dem Gletscher.
Das Rifugio Marco e Rosa auf dem Absatz. Dahinter der Piz Bernina.
Natürlich äußert sich der Gebietsführer zu
dem 'Wie' des Hochkommens. Es gibt zwei Möglichkeiten, den
Klettersteig durch die Felsen oder eine steile Firnflanke in die
Fuorcola Crast' Agüzza. Angeblich wird letztere seit der
Einrichtung des Klettersteigs selten begangen. Wie so oft ('Differenzen
über die Art der Tour') scheiden sich auch hier die Geister:
Stefan will seine firnalpinistischen Fähigkeiten unter Beweis
stellen, ich halte mich lieber an die im Führer empfohlene
Variante. Eisgeräte haben wir zwar nicht dabei, aber zwei
langschaftige Pickel werden als für dieses Firnfeld ausreichend
befunden.
Also trennen sich hier unsere Wege. Trotz der mahnenden Worte in
unserem alten Pyrennäen-Führer, "ne jamais sortez seul dans
la
montagne". Ich bin überzeugt, daß der Klettersteig das
kleinere Übel darstellt. Denn was kann so ein
Hüttenklettersteig schon an Schwierigkeiten bieten? Also habe ich
auch keine Bedenken, mich nur mit einer Bandschlinge und einem
Karabiner in den Drahtseilen einzuklinken. Statischer Sturz? Ach was,
hier fall ich eh nicht. Kurz nach der Einstiegsleiter bin ich mir
dessen nicht mehr so sicher. Ich rampfe, schnaufe und schwitze, und
muß an heiklen Stellen meine einzige Sicherung lösen und
umhängen. Auch nebelt es inzwischen ziemlich und ich bin ganz
allein auf diesem Steig. Doch alles geht wieder mal gut, und als ich
gerade auf der Hüttenbank platzgenommen habe, kommt auch Stefan
klatschnass herangewankt. Im oberen Teil des Firnfeldes lief das Wasser
in Strömen, so daß nicht nur ich auf dem Klettersteig
mulmige Momente durchleben mußte.
Das Rifugio Marco e Rosa von Osten.
Das alte Rifugio Marco e Rosa.
Da die neue Hütte voll ist, werden wir im alten Bau
einquartiert, der recht spektakulär am Abgrund steht. Der Kasten
ist zwar etwas zugig, aber dafür sind wir unter uns, zumindest in
der ersten Nacht. Es werden deren drei, da das Wetter am nächsten
Tag so schlecht ist, daß eine Piz Bernina Besteigung nicht
besonders erbaulich wäre. Also wird der Tag mit Essen,
Abhängen und einem Erkundigungsspaziergang zum Grateinstieg
verbracht.
3. Tag: Rifugio Marco e Rosa
Alpines Abhängen im alten Rifugio.
4. Tag: Rifugio Marco e Rosa - Piz Bernina (4049m) - Rifugio
Marco e Rosa
Am Morgen des vierten Tages ist der Himmel wieder klar und wir
wälzen uns zu üblich früher Stunde aus den Betten. Das
karge Frühstück wird in Gesellschaft von zig anderen
verzehrt, mit denen wir uns in Kürze ein Wettrennen über das
mässig steile Firnfeld von der Hütte zum Grateinstieg liefern
werden. Uns graut schon vor dem zu erwartenden Gedrängel am Grat.
Letzte Wolken im Osten.
Vor allem zwei andere Gruppen sind sehr prominent: Acht Belgier
mit zwei italienischen Bergführern und ein Schweizer
Jugendgruppenleiter mit dazugehöriger Jungmannschaft. Letzterer
wird von uns aufgrund ergrauter Lockenpracht auf den Namen Gotthilf
Fischer getauft. Jeder der italienischen Bergführer zieht eine
Gruppe von vier Belgiern am kurzen Seil hinter sich her. Gesichert wird
selbst in Steilstücken nur, indem das Seil hinter einen winzigen
Felszacken geklemmt wird. Nicht besonders angenehm, vier auf diese
Weise gesicherte und mit Steigeisen bewährte Personen über
sich zu wissen. Weiter oben, auf der scharfen Firnschneide des Grates,
versucht einer der Bergführer, eine etwas langsame Teilnehmerin
durch Absingen von Variationen ihres Namens zum schneller gehen zu
bewegen. Wenn ich nur auch so locker wäre wie dieser Typ!
Anstattdessen mache ich mir die ganze Zeit Gedanken darüber, ob
ich auch schnell genug herausfinde, auf welche Seite des Grates ich
springen muß im unwahrscheinlichen Fall, daß Stefan hinter
mir abschmiert. Doch auch in verkrampftem Zustand wird der Gipfel
erreicht, die Belgier machen freundlicherweise ein Foto von uns und das
gleiche Geeiere wiederholt sich im Abstieg.
Am Spallagrat. Blick auf die Bellavista Terrasse und den Piz
Palü. Blick nach Süden auf den Scerscen Gletscher.
Ankunft am Gipfelaufbau. Man beachte den unfrohen Gesichtsausdruck
("des müsse Sie net habbe"). Leichte Kletterei bis zum Gipfel.
Biancogratbegeher sind noch keine am Gipfel angekommen, also ist
der Grat im Abstieg zumindest nicht bevölkerter als im Aufstieg.
Abwärts geht's auch schneller, da viele der Kletterstellen
abgeseilt werden können. Jetzt zahlt es sich auch aus, daß
ich die ganze Zeit das zweite Halbseil im Rucksack herumgetragen habe.
Manch kürzere Stellen müssen jedoch abgeklettert werden, und
an einer solchen demonstriert Gotthilf Fischer interessante
Klettertechnik. Während wir umständlich nach Tritten suchen,
hängt er sich an die Arme und schwingt den Rest unbeeindruckt vom
gähnenden Abgrund die Wand hinab, die Steigeisen schrabbern dabei
um Haaresbreite an Stefan's Gesicht vorbei. Wir halten die Luft an und
hoffen, daß seine Jungschar weiter oben einen sicheren Standplatz
bezogen hat.
Blick vom Gipfel auf die Bellavista Terrasse mit Piz Palü,
Bellavista Spitzen und Piz Zupo. Die Rippe ganz links unterhalb der
Terrasse ist der Fortezzagrat.
Am frühen Nachmittag sind wir wieder an der Hütte. Die
allgemeine Schlappheit ist zu groß, um noch mit dem Abstieg zu
beginnen. Außerdem nebelt es schon wieder und wir wollen uns noch
die Möglichkeit einer Piz Palü Überschreitung am
nächsten Tag offenhalten. Der Rest des Tages wird also vergammelt
und das immer gleiche aber wohlschmeckende Hüttenmenu zum dritten
Mal verzehrt.
5. Tag: Rifugio Marco e Rosa - Fuorcola Bellavista (3688m) -
Fortezzagrat - Diavolezza
Auf dem Weg zur Bellavista
Terrasse.
Blick zurück zum Rifugio.
Der nächste Morgen ist wieder klar, so daß wir uns auf
perfekte Sichtbedingungen auf der Aussichtsterrasse der Bernina freuen
dürfen. In einer gut ausgetretenen Spur machen wir uns auf den Weg
zur Bellavista. Selbst durch den Gletscherbruch windet man sich auf
diese Weise sehr bequem hindurch. Und auf der Terrasse selbst wird's
einem sehr feierlich zumute.
Wanderer über dem
Nebelmeer.
Wohin?
Doch zulange sollte man nicht verweilen und die Aussicht
geniessen, denn über einem türmen sich Seracs, die
dummerweise nicht zu denjenigen objektiven alpinen Gefahren
zählen, die man vermeidet, indem man früh dran ist.
Seracs hin oder her, das Erinnerungsfoto vom Piz Bernina im
schmeichelnden Morgenlicht wird noch geschossen.
Piz Palü, ja oder nein? Das Wetter ist perfekt, aber es
bläst ein unangenehm starker Wind. Am Spallagrat waren die
Böen auch schon störend, aber heute ist's ein andauernder
Föhnsturm. Wir biegen trotzdem nach rechts ab, um uns von der
Fuorcola Bellavista die Sache nochmal aus der Nähe anzusehen. Hier
ist der Wind noch stärker und am Grat des Westgipfels hängen
Schneefahnen. Wahrscheinlich kein Vergnügen. Diesmal setzt sich
kein harter Kern durch, sondern wir weicheiern in Eintracht runter zum
oberen Einstieg des Fortezzagrates. Zum Glück befinden sich die
Wolken noch unter uns, so daß wir ohne Probleme die richtige
Rippe finden.
Runterschlappen, abklettern, abseilen. Alles am normgeprüften
Bergseil, und diesmal lückenlos. Da der Fortezzagrat den
üblichen Zustieg zum Rifugio Marco e Rosa von der Nordseite
darstellt, ist er perfekt mit gebohrten und leuchtend markierten
Abseilstellen und Ständen versehen. Ein Segen für
Plaisiralpinisten wie uns, andernfalls würden wir wahrscheinlich
Stunden mit dem Anbringen von Sicherungen verbringen.
Nachdem der Felsteil überwunden ist, wandert man noch eine Weile
über eine harmlose Firnrippe, bis man auf ca. 3160m nach rechts
auf den Persgletscher abbiegt. Diesen überquert man, erst nach
Osten ausholend, um die Hauptspaltenzone zu umgehen, dann strack nach
Norden auf die Diavolezza zuhaltend. Alle Spalten liegen offen, was uns
als nicht Ortskundige einige Male hin und wieder wandern
läßt, um einen Weg durch das Labyrinth zu finden. Über
was man bei geschlossener Schneedecke alles so drüberlatscht ...
Zumindest gab es bei unserer Winter Piz Palü Besteigung kein
Hin-und Wiederwandern. Aber der Winter war sehr schneereich und daher,
hoffentlich, alles sehr solide.
Beim Erreichen der Pfadspuren zur Diavolezza im Geröllgelände
erklären wir den ernsthaften Teil der Tour als beendet. Alles
Alpingeraffel wird abgelegt und in den Rucksack gestopft, und auch die
schützenden Kleidungsschichten werden abgestreift, um in T-Shirt
und Funktionsunterhose die besonnte Sonntagswanderung zur Seilbahn
anzugehen. Doch es zeigt sich wiedermal, daß eine Bergtour erst
dann beendet ist, wenn man seinen Hintern in den Gaststubensessel
gedrückt hat und das dampfende Rösti vor einem steht. Beim
achtlosen Hopsen von Felsblock zu Felsblock erwischt Stefan ein loses
Exemplar, welches sich in Bewegung setzt, ihn auf den Rücken ins
Geröll legt und dann Kurs auf mich weiter unten nimmt. Ich rette
mich mit einem beherzten Sprung zur Seite.Unter uns halten sich zum
Glück keine Leute auf. Alles nochmal gut gegangen. Stefan ist auf
seinem vollgestopften Rucksack gelandet und hat nur ein paar Kratzer an
den Unterarmen und eine schmerzende Schulter. Ich habe nur Herzrasen.
Die überfüllte Diavolezza Sonnenterrasse wird erreicht, ein
Platz ergattert und irgendwann steht tatsächlich das dampfende
Rösti da, mit dem aber der flaue Magen noch etwas Schwierigkeiten
hat. Die Atmosphäre hier oben ist sehr international und
schweizerisch neutral - neben orthodoxen Juden räkeln sich
arabische Großfamilien in den Liegestühlen - und der
Ausblick atemberaubend.
Piz Palü Nordseite (allerdings nicht von der Diavolezza,
sondern vom Fortezzagrat).
Der Seilbahnverdacht ist längst ein veraltetes Konzept, und
so schweben wir später in zehn Minuten mit der Seilbahn zum
Bahnhof der Berninabahn hinunter. Diese bringt uns über den
Bernina Pass nach Poschiavo, wo das Auto abgeholt und die Fahrt nach
Süden fortgesetzt wird. Aus irgendeinem Grund sind wir der
Ansicht, daß dies der günstigste Weg nach Brig ist. Wir
verbringen die Nacht in einem teuren Hotel am Lago Maggiore, dann
geht's weiter über den Simplon Pass nach Brig, wo Harald schon am
Bahnhof wartet. Auf zu einer wohlakklimatisierten Aletschhornbesteigung
(zumindest für Stefan und mich)!